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Georg Schaller (1919-2005)

Erwin Thurnher lernt Georg Schaller im August 1942 während des 2. Weltkrieges in Norwegen kennen. Schaller ist Grazer, der nach dem Krieg nach Lüdenscheid zieht, der Liebe wegen. Er wird dort Realschullehrer. Gemeinsam werden sie Norwegen mehrere Male bereisen und die Faszination für das Land miteinander teilen. Nach dem 2. Weltkrieg stehen Thurnher und Schaller in intensivem Brief-wechsel und tauschen immer wieder ihre veröffentlichten Artikel und Fotos aus. Gleichzeitig besuchen sich die beiden auch gegenseitig um gemeinsame Wanderungen und Bergreisen in Vorarlberg und dem Sauerland zu unternehmen.

 

Georg Schaller wird 15 Jahre nach dem Tod von Erwin Thurnher, im Jahre 1986 die Kriegserinnerungen seines guten Freundes als Buch herausbringen. Nach langer Suche hatte er doch noch einen Verlag gefunden, der sich des Themas annimmt. Kriegserinnerungen aus Sicht von Soldaten der Wehrmacht sind im Jahr des Historiker-streites alles andere als populär. Der Stocker-Verlag, der das Buch unter dem Titel „In der Hölle von Millerowo“ in sein Sortiment nimmt, veröffentlicht zu dieser Zeit viel einschlägige Literatur, die dem rechten, teilweise sogar rechtsextremen Bereich zugeordnet werden kann.

Fortsetzung folgt bis zum 1. April 2023...

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Georg Schaller auf Besuch in Dornbirn (1970)

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Zeitungsartikel von Georg Schaller in den Lüdenscheider Nachrichten (1958)

Ich sah Haus und Tagebuch der Anne Frank

 

Am Freitag dieser Woche werde die Städtische Bühnen Gelsenkirchen im Parktheater „Das Tagebuch der Anne Frank“ spielen, ein Stück von Frances Goodrich und Albert Hacket. Darum interessiert gerade in diesen Tagen der Erlebnisbericht von Georg Schalter den uns der Lüdenscheider Realschullehrer zur Verfügung stellte. (Die Redaktion)

 

Der Name des Mädchens Anne Frank ist in den letzten Jahren für alle Länder ein Begriff geworden. 1929 als Kind deutscher jüdischer Eltern geborgen, geriet sie in Amsterdam, wohin ihre Familie nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus emigrierte war, in die Judenverfolgungen des Zweiten Weltkrieges. Zwei Jahr lang konnte sich die Familie in einem der alten, vielwinkeligen, verbauen Grachtenhäusern verbergen, bis sie doch noch kurz vor Kriegsende entdeckt und verhaftet. Getrennt von Mutter und ihrem geliebten Vater, starb Anne Frank im März 1945 im Lager Bergen-Belsen an Flecktyphus, einen Tag, nachdem ihre einzige Schwester Margot ebenfalls dort verschieden war. Durch Zufall blieb Annes Tagebuch erhalten. es wurde in fast allen Kultursprachen der Erde übersetzt. Wer es gelesen hat, spürt wohl, daß die Stimme dieses Mädchens längst Symbol und Inbegriff der angstgequälten und sich nach Frieden sehnenden Welt geworden ist.

Mir jedenfalls ließ dieses Bekenntnis keine Ruhe, bis ich nicht in der Prinsengracht 263 vor jenem grauen, verfallenen Hause stand, in dem Anne Frank für uns alle gelitten hat. Mein Blick gleitet an jenem Hause empor, das, engbrüstig zwischen andere alte Giebelhäuser gedrängt, sich schon Jahrhunderte in der Gracht spiegelt. Über den drei Stockwerken, von denen jedes nur drei Fenster besitzt, ragt ein Hißblock aus einer Dachluke. Ein langes Seil baumelt noch daran. Keine Vorhänge oder Blumen wie bei anderen holländischen Häusern schmücken die längst blind gewordenen Fenster dieses unbewohnten und ausgestorbenen Gebäudes. Alle Türen sind verschlossen. Nach mancherlei Mühen gelingt es mir, den Besitzer zu finden, der sich freundlich bereit erklärt, das Haus aufzuschließen.

Ein dunkler Lagerraum Lagerraum, staubig,, noch nach Pfeffer und Ingwer riechend, gähnt uns entgegen. Das brausende, von Lachen, Kinderstimmen und Glockenklang erfülle Leben der sonnigen Gracht ist hier erstorben. Auf der engen steilen Holztreppe karren die Bretter unter unseren Füßen. Die stark gebogenen Balken über uns scheinen jeden Augenblick zusammenstürzen zu wollen. dies und das Bewusstsein, daß viel Lied und Grauen in diesem Gebäude ertragen wurden, schnüren einem mehr und mehr Herz und Kehle zusammen. Niemand spricht ein Wort.

Im „Achterhuis“ (Hinterhaus) des ersten Stockwerkes liegt Kralers Privatkontor. Hier haben die Untergetauchten, wenn das Haus leer war, Radio gehört. Wieder eine Treppe, und wir stehen im 2. Stock vor einer niedrigen Türöffnung, die Vorder- und Hinterhaus trennt. Sie führte zum Versteck der Familien Frank und van Daan und war ehedem durch ein drehbares Bücherregal mit Aktenordnern geschickt getarnt. Wir halten einen Augenblick inne. 

Durch jene Öffnung wurden die Todgeweihten abtransportiert, nachdem sie durch Verrat und eigene Unvorsichtigkeit der Gestapo in die Hände gefallen waren. Links noch ein Gang, und wir sind im Zimmer von Annes Eltern. Trostloser Anblick! Alte aufgestapelte Kartons, zerfetzte Tapeten, Staub leere, stickige Luft. Durch eine Türe rechts betreten wir Anne Franks Schlafzimmer. E ist ebenso öde und freudlos wie das der Eltern. Der Raum in dem die lichtbraunen Tapeten in Fetzen herunterhängen, wird durch ein einziges Fenster erhellt. Vor dem rechten Flügel sieht man noch zerschlissenen Vorhang, den Anne Frank selbst mit Reißnägeln angeheftet hat. Beklemmende, lastende Stille in diesem Raume, in dem das Mädchen gelebt hat, geschrieben und wohl auch jene Klage ausgestoßen hat: „Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat, und der im Dünkel gegen die Stangen seines Käfigs anfliegt: heraus, heraus schreit es in mir, und ich habe Sehnsucht nach Luft und Lachen.“

Wir blicken durch das Fenster in den Hinterhof, der ebenso verlassen wie das Haus ist. Einen von Annes Kastanienbäumen hat man umgehauen, der andere schmückt sich eben mit grünen Blättern. Vater Frank, der als einziger lebend zurückkam, ließ aus den Holzplattenwänden von Annes Zimmer Nene Stellen herausschneiden, die das Mädchen mit Fotos von Filmstars, griechischen Kunstwerken, der königlichen Familie und einer Landkarte belebt hatte. Wir schieben einige Kartons beiseite und legen einen Strauß gelber Tulpen an die Stelle, wo Anne sich abends in den Schlaf geweint hat. 

Wieder steigen wir eine Holztreppe hinauf ins dritte Stockwerk, in die beiden Zimmer der Familie van Daan. Das Unglück mußte so plötzlich über sie hereingebrochen sein, daß sie alles wie es war, liegen und stehen ließen. In dem 

Wandregal stehen noch zwei Töpfe mit Rührlöffeln und eingetrockneten Speiseresten. „Dort“, unser Begleiter weisst auf eine Stelle vor dem Ofen, „fand man unter altem Papier und Büchern, in denen die Kinder gelernt hatten, Annes Tegebücher. Die Gestapo ha zwar alles ausgeräumt, die Bücher aber für wertlos gehalten. Diesem Zufall verdanken wir den Einblick in das grausame Schicksal eines unschuldigen Menschenkindes, das von sich selbst einmal prophetisch aussprach: „Ich will noch fortleben noch fortleben nach meinem Tode“. Endlich stehe ich hoch oben auf dem Dachboden, der so oft den Liebenden, Peter und Anne, letzte Zuflucht wurde, Ich schaue durch das kleine Fenster über die Dächer und Giebel der Stadt, höre das Glockenspiel der nahen Westerkerk, das trotz seines melancholischen Geläutes Anne immer zu trösten vermochte. des kleines Fenster war Annes einzige Verbindung mit der Außenwelt. Das winzige Stückchen leben, da hier an der Gefangenen vorbeiflute, vermochte sie noch jubeln lassen: „Gehe hinaus in die Felder, die Natur und die Sonne, gehe hinaus, gehe hinaus, suche das Glück in dir selbst und in Gott. Denke an das Schöne, , das sich in dir und um dich immer wieder vollzieht und sei glücklich!“ 

Als ich wieder auf der Prinzengracht stehe und Sonnenwärme und pulsierendes Leben mit entgegenströmen, sagt mein holländischer Begleiter nur schlicht: „Hier haben Sie da leben noch dem sich Anne so sehnte, wenn sie abends nach Geschäftsschluß durch den Spalt der zugezogenen Vorhänge hinauslugte…“

Einen Tag später steh ich auch Koophuis gegenüber, jenem Mann, der zwei Jahre lang unter steter eigener Lebensgefahr die Familie seines Chefs in ihrem Versteck leiblich und seelisch hochhielt und schließlich für seine wunderbare Treue selbst ins KZ ging - ein hochgewachsener hagerer Mann mit einem Gesicht, das gut und leid gleichermaßen geprägt haben. Man wagt vor ihm kein Kompliment, kein unnötiges Wort auszusprechen. Ich sage nur, daß ich das Buch gelesen, daß fast alle meine Schüler es kennen, und daß ich in ihrem und meinem Namen nach Amsterdam kam, um die Hand zu reichen. Bescheiden nimmt er sie, geht dann wortlos zu einem Schrank, öffnet eine eiserne Kassette und legt ein Kindertagebuch mit rotkariertem, gewebtem Einband vor mich hin: „Das Tagebuch von Anne Frank“.

Zögernd schlage ich es auf und bin betroffen die längst gelesenen gedruckten Zeilen nun hier in großen kindlichen Schriftzügen wiederzufinden - war doch Anne gerade erst 13 geworden, als sie dies Tagebuch begann. Fotos und Briefe von Freundinnen waren mit eingeklebt.

Plötzlich ändert sie ihre Schrift - andere Schreibrichtungen, kleinere Buchstaben werden ausprobiert — wer von uns hatte das in jenem Alter nicht auch schon mal versucht? Gegen Ende des Buches wird die Schrift konstant — nun lebt Anne schon im Hinterhaus — die Spielerei hat aufgehört. Die Fortsetzungen stehen in zwei dicken Schulkladden. Ehrfürchtig gleiten meine Hände über das braune Packpapier, in das Anne diese Kladden noch selbst eingeschlagen und mit ihrem Namenszug versehen hatte; waren sie doch ihr einziger und kostbarster Besitz.

Als ich sie durchblättere und sehe, wie mühelos und fast ohne Korrektur Seite um Seite hingeschrieben wurde, und als mir Koophius die großformatige Geschäftsmappe mit Annes Kritiken über gelesen Lektüre und mit Zitaten (auch viele deutsche waren darunter) zeigt — da wird mir eines klar: Anne Frank war nach Auffassung und Gestaltungskraft, Phantasie und Herzenswärme schon jetzt Schriftstellerin. Und „meisje“ mit dem „dagboek“, wie die Amsterdamer sagen, wäre uns vielleicht auch ohne ihre denkwürdigen Aufzeichnungen und ihr tragisches Ende eines Tages aufgefallen und zum Begriff geworden. Zum Abschied schenkte mir Koophuis ihr in holländischer Sprache erschienenes Märchenbuch „Weit je nog? (Weißt du noch?).

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Artikel von Georg Schaller aus dem Jahre 1958 über seinen Besuch im noch nicht öffentlich zugänglichen Haus der Anne Frank (1929-1945) in Amsterdam

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